Gastgeberschaft im Höhenflug
25. April 2025
#beethovenfest

Von der Lufthansa zum Beethovenfest
Von Christian Siegmund
Liebe Leser:innen,
willkommen an Bord dieses Essays, bei dem ich Euch mitnehmen möchte, die Kunst der guten Gastgeberschaft zu erkunden. Als »Inside Artist« beim Beethovenfest 2024 konnte ich erstmals zwei Seelen in meiner Brust miteinander vereinen: Einerseits die des Pursers mit über 25-jähriger Erfahrung als Kabinenchef der Lufthansa und andererseits die des Kulturvermittlers in der klassischen Musikwelt, insbesondere als künstlerischer Leiter des Formats 1:1 CONCERTS. In diesem Essay möchte ich wertvolle Parallelen zwischen diesen auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Welten ziehen. Was macht ein Flugerlebnis zum besonderen Ausnahme-Moment, bei dem die Gäste im wahrsten Sinne des Wortes aus der Welt gehoben werden, so wie das Konzertpublikum der Welt auf wunderbare Weise entrückt werden will?
Gastgeberschaft ist eine universelle Tugend, die tief in menschlichen Kulturen verankert ist. Sie umfasst die freundliche Aufnahme und Versorgung von Gästen, symbolisiert durch Wärme, Schutz und Gemeinschaft. Schon die alten Griechen kannten die Philoxenie (Fremdenliebe), also ein »ritualisiertes Vertrautsein mit Jeder und Jedem«, als Gegensatz zur Xenophobie (Fremdenhass). In den Weltreligionen gilt sie als heilig, wenn auch nicht grenzenlos. Was also braucht es, damit eine besondere Gastgeberschaft gelingt und eine nachhaltige Erfahrung entsteht bzw. der »Draht zur Welt vibriert«, wie es der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Werk »Resonanz« beschreibt? The sky is (not?) the limit!

Bereit zum Höhenflug
Briefing und Boarding: der frühe Vogel der Gastgeberschaft
Bei der Lufthansa sind wir als Crew stets viele Gastgebende auf einmal. Nur selten kennt man sich, aber jedes Mal aufs Neue stimme ich meine Crew im Briefing auf die Gastgebenden-Haltung ein. In 15 Minuten gelingt es uns, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der aus bisher fremden Kolleg:innen eine Crew macht, von der die Gäste beim Aussteigen sagen: »Fliegen Sie eigentlich immer in dieser Konstellation?« Der Zauber liegt in der Grundhaltung. »Kindness always wins!«, hörte ich auf meinem allerersten Flug von einer erfahrenen Kollegin. Dieser Satz ist seither mein Leitmotiv. Jede Gastgeberschaft beginnt mit dieser liebenswürdigen Zugewandtheit. Es geht darum, Menschen ein Gefühl wahrer Wertschätzung zu vermitteln – unabhängig davon, ob sie gelassen oder gestresst, freundlich oder fordernd sind. Wer sich provozieren lässt, hat schon verloren. Beim Boarding zeigt sich diese Haltung besonders deutlich: Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck! Ein freundlicher Blick in die Augen jedes Gastes, ein authentisches Lächeln und das Antizipieren von Bedürfnissen schaffen eine Atmosphäre des Willkommenseins. Wer den Stern der »Kindness« hell zum Leuchten bringen will, muss zudem mehr als nur Dienst nach Vorschrift machen. An Bord sind es oft die kleinen und ungefragten Gesten, die den Unterschied machen. Etwa ein weiches Kissen für die erschöpfte Passagierin oder ein beruhigendes Wort für den nervösen Fluggast. Im Klartext: die Extrameile gehen.
Auch den Konzertraum betreten die Gäste voller Erwartungen. Der erste Kontakt entscheidet darüber, mit welchem Grundgefühl sie in den Abend starten. Im Beethovenfest 2024 konnten meine Kollegin Franziska Ritter und ich als »Inside Artists« beim »Duzen-Projekt« jeden einzelnen Konzertgast persönlich begrüßen sowie verabschieden und sind zudem in der Pause in die Begegnung mit den Gästen gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass das einen enormen Unterschied macht und bei den verblüfften und sehr positiv überraschten Gästen im Gedächtnis bleibt. Am Ende waren es dann sogar die Gäste, die uns namentlich verabschiedeten!
All Doors in Flight - im Team zum Höhenflug
Kurz vor dem Start ist die Koordination zwischen Cockpit, Bodencrew und Kabinenbesatzung besonders entscheidend. Hier müssen rasch wichtige Informationen fließen sowie Entscheidungen getroffen werden. Für die Gastgebenden-Haltung bedeutet das, blitzschnell zu merken: Ist das gesamte Team bereit und auf dem gleichen Kenntnisstand? Sind alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen? Ist das Cello auf 32A fest verzurrt und hat das Baby auf 7C seine Schwimmweste im Miniformat? Hier entscheidet sich, ob die Gäste sich nicht nur willkommen, sondern auch spürbar sicher fühlen. Über 90% der Flugzeugunglücke passieren bei Start und Landung – im Notfall kann gute Gastgeberschaft Leben retten. Als Gast will ich spüren: Diese Crew meint es ernst. Das heißt, im Notfall sind in 90 Sekunden alle evakuiert (ja, das können wir!).
Der Konzertbetrieb ist natürlich weitaus weniger gefährlich, aber auch vor dem Schließen der Saaltüren für das große Erlebnis merken Gäste, ob das Team den Saal im Blick hat und auch spontan herausfordernde Situationen meistert. Wird ein bewegungseingeschränkter Gast zu seinem Platz geleitet? Bleibt das Awareness-Programm nur ein Blatt Papier mit Versprechungen oder schreitet das Team wirklich ein, wenn jemand diskriminiert wird? Zuvorkommende Zusammenarbeit ist maßgeblich für den Erfolg. Von der Intendantin zum Garderobier spielt jede:r Einzelne:r eine entscheidende Rolle in der Choreografie des großen Ganzen.
Außerdem ist ein wichtiger Aspekt, dass auch das Team sich selbst ein guter Gastgeber ist. Als »Inside Artists« haben wir für das gesamte Beethovenfest-Team ein »Sternenwichteln« angeregt. Das Team war per Losverfahren eingeladen, einer:m Kolleg:in im Laufe des arbeitsintensiven Festivals einen wohltuenden Überraschungs-Moment zu schenken. Von der Wärmflasche bis zum selbstgeschriebenen Sonett – diese Momente stärkten das Gemeinschaftsgefühl enorm und strahlten durch die Wertschätzung wiederum auf das Publikum zurück.

Christian, Franziska und Saman als zaubernde Gastgeber:innen beim Beethovenfest
Reiseflughöhe: Vorhang auf - Blutzucker hoch
Nachdem die Reiseflughöhe erreicht ist, bleibt der Vorhang der Bordküche erst noch geschlossen. Im Backstagebereich laufen die Arbeiten zur Verköstigung der Gäste auf Hochtouren. Liebe geht bekanntlich durch den Magen und versorgt das Hirn mit Zucker und ist in der sauerstoffreduzierten Kabinenluft umso essentieller! Erneut wird in einem kleinen Briefing koordiniert, welche Wagen wo aufgebaut werden, welche Sonderessen verteilt werden und welche weiteren Besonderheiten gelten. Vorhang auf für Empathie mit interkulturellem Fingerspitzengefühl. Ein nicht ganz heißer grüner Tee führt etwa bei japanischen Gästen sofort zu herber Enttäuschung, die jedes Crewmitglied selbstredend mit einem entschuldigenden »Sumimasen!« ausbügeln kann.
Unser Inside Artists-Kollege, der Bonner Kulturvermittler Saman Haddad, betont zurecht stets die Wichtigkeit der Kulinarik als eine der zentralen Säulen für das Konzerterleben. Im Unterzucker können wir kein Konzert genießen. Beim Essen und Trinken wird das kulturelle Erlebnis zusätzlich zum sozialen Begegnungsraum, vor und nach dem Konzert sowie in den Pausen. Im Rahmen von Inside Artists haben wir für ein Konzert des Pianisten Giorgi Gigashvili einen kulinarischen Sternenmoment entworfen, der diese Elemente verbinden sollte. Seine Mutter brachte daraufhin die typisch georgische Süßigkeit »Tschurtschchela« mit, die dem Publikum mitten im Konzert gereicht wurde. So haben die Gäste ein symbolisches gemeinsames Mahl eingenommen und die Kulinarik wurde zu einer wunderbar verbindenden Brücke zur georgischen Musik.
Sternenmomente am Beethovenfest 2025
Turbulenzen meistern: »Stop–Check–Opera(te)!«
Auch während eines ruhigen Fluges können unerwartet Turbulenzen auftreten. Das gilt im Flugzeug nicht nur bei thermischen Aufwinden, sondern auch bei individuellen Bedürfnissen oder Notfällen mit Passagieren. Wie auch beim kritischen Punkt von Start und Landung werden die Flugbegleiter:innen zu potentiellen Held:innen. Die goldene Faustregel der Luftfahrt »Stop–Check–Operate!« dient in allen Fällen als wichtiges Werkzeug, um Fehler durch überstürztes Handeln zu minimieren. Innehalten, überprüfen und erst dann beherzt handeln gewährleistet die nötige Ruhe und Präzision, um jede Art von Ausnahmesituation zu meistern. Flugbegleiter:innen müssen in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen. Sie werden bei medizinischen Notfällen zum Ersthelfer oder zur Rettungssanitäterin, zum Psychologen oder auch mal zur Nanny. Und im Worst-Case-Szenario eines offenen Brandes in der Luft auch zur Feuerwehrfrau und Rettungsengel. Schnelles und umsichtiges Handeln ist gefragt, aber auch die Fähigkeit zur Antizipation.
Dieser Weitblick ist gleichermaßen im Kulturbereich von unschätzbarem Wert. Wer benötigt wann welche Hilfe? Wo muss ich als Veranstalterin kreativ werden und Ausnahmen machen? Das war beim Bonner GRUND:GESETZ Projekt von 1:1 CONCERTS gefragt. Dort traf in einem Container vor der Kreuzkirche je ein Gast auf ein:e Musiker:in und es »erklangen« Artikel des Grundgesetzes. Der Geräuschpegel zweier großer Demonstrationen erforderte kluge Umdisponierung in Windeseile. Im Zusammenspiel von Organisator:innen, Musiker:innen, dem Küster der Kirche und dem Team der Festivalzentrale haben wir die Konzerte innerhalb von fünf Minuten (!) in die benachbarte Kirche verlagert. Die Wertschätzung aller Beteiligten war hierbei von entscheidendem Belang. So wurde aus einer lediglich guten Veranstaltung ein unvergessliches und großartiges Erlebnis. Als Leitmotiv zum Meistern von Turbulenzen am Boden wandeln wir die Lufthansa-Regel für den Konzertbetrieb um: »Stop–Check–Opera!«
Landung und Ankunft: das Wunder des Höhenflugs!
Nach einer sicheren Landung wird das Wunder des Fliegens meist schnell vergessen, aber vergegenwärtigen wir uns: eine mit Menschen prall gefüllte Druckkabine schießt tausende Meter über dem Boden durch die Luft! Wir wissen, es hat wohl irgendwas mit An- und Auftrieb zu tun, doch bleibt es für die meisten von uns wohl ein Wunder. Früher wurde nach jeder Landung geklatscht – ähnlich dem begeisterten Applaus am Ende eines Konzerts. Wie beim Fliegen ist auch im Konzert Zauber nur möglich, wenn alle Zahnräder perfekt ineinander greifen: Künstler:innen auf der Bühne, Techniker:innen hinter und Servicekräfte vor den Kulissen, Organisator:innen im Hintergrund.
Wie wird also ein Festival zum Höhenflug? Gute Gastgeberschaft mit all ihren beschriebenen Facetten ist hierfür ein wichtiges Element. Darin liegt eine grundlegende Haltung, die verinnerlicht werden muss, jenseits von Servicekonzepten oder der Bewerbung um den nächsten Rating-Stern. Egal ob über den Wolken oder im Konzertsaal: Es gilt Grenzen zu überwinden, Horizonte und Perspektiven zu erweitern, um Menschen wirklich miteinander zu verbinden. Wer derart verzauberte Gäste will, muss ein zaubernder Gastgeber sein, der Räume und Herzen öffnet. Die empathische Hinwendung der Gastgeberin zum Gast evoziert authentische Begegnungen. Sie verwandelt Gäste – und die Gastgebenden selbst – zu Teilnehmenden eines wahrhaft resonierenden Erlebnisses.