Jonas Urbat und die Melancholie 27. November 2023

#1to1dialogues

© Matteo Pablo Varisco

Wir präsentieren Euch hier bereits den zweiten Teil unserer neuen Insta-Live-Reihe 1:1 DIALOGUES, passend zur Jahreszeit zum Thema Melancholie. Von Oktober bis März werden unsere künstlerischen Leiter:innen Franziska Ritter und Christian Siegmund jeweils abwechselnd mit spannenden und überraschenden Dialogpartner:innen kleine Lichtimpulse für die etwas dunklere Jahreszeit geben. Wir sprechen über Themen, die uns rund um die 1:1 CONCERTS bewegen: Resonanz, Augenhöhe, Wirkung und alles was uns gerade interessiert. Diese Treffen sollen kurz und spannend sein, jeweils nur 15 Minuten lang, ganz im Stil unserer 1:1 CONCERTS. Auch bleibt der Name unserer Gesprächspartner:innen bis zuletzt eine Überraschung. Die erste Folge über das Thema "Improvisation" mit Franziska Ritter und Maria Reich findet ihr hier.

In dieser neuen Folge spricht Christian mit dem Tubisten und Tausendsassa Jonas Urbat. Die Beiden kennen sich über das Netzwerk der Kultur- und Kreativpilot:innen. Als Musiker ist Jonas mit verschiedenen Ensembles und Orchestern unterwegs, aber auch solo mit Tuba und Elektronik. Darüber hinaus ist Jonas ein begehrter Komponist, Konzepter, Gründungsmitglied des STEGREIF.orchesters, Improvisateur, Produzent und Erschaffer unterschiedlichster Klangwelten. Mit seinem Unternehmen SoundWERK PRODUCTIONS begibt er sich auf die Suche nach den klingenden Geschichten an Alltagsorten. So geht er in Fabriken, Handwerksbetriebe oder andere Orte um die dortigen Klänge zu Kompositionen zu verdichten und in regelrechte musikalische Visitenkarten zu verwandeln. Für den berührenden Soundfilm über eine Instrumentenfabrik wurde Jonas mit seinem Kompagnon Nicolas dieses Jahr mit dem deutschen Wirtschaftsfilmpreis ausgezeichnet.

Hier könnt ihr den Insta-Live Mitschnitt nachschauen und das erweiterte Transkript nachlesen. Viel Spaß!

Nicht nur melancholisch, der 1:1 DIALOG zwischen Jonas und Christian.



Christian: Lieber Jonas, herzlich willkommen zu unserem zweiten Insta-Live Talk. Ich freue mich, heute mit Dir über das Thema „Melancholie“ zu sprechen. Bist du heute Abend melancholisch?

Jonas: So ein bisschen schon. 

Christian: Zuletzt haben wir uns nicht digital, sondern analog und live gesehen. Am 12. November haben wir gemeinsam mit dem Künstlerkollektiv 1781 Collective zum Thema „MELANCHOLIA“ gearbeitet, in der verrückten Wandelperformance „Labyrinth“, bei der Franziska und ich 20 Menschen aus dem Publikum zu einem 1:1 CONCERT mit Dir „verführt“ haben. Als sich die Hörer:innen auf den leeren Stuhl Dir gegenüber setzten, war da eine Melancholie zwischen euch zu spüren? Wie würdest du diese ganz speziellen 1:1 Verführungen dort in der Musikbrauerei beschreiben? 

Jonas: Ich hatte gerade den Gedanken, dass ich Melancholie oft eher einzeln erlebe, also wenn ich alleine und wirklich für mich bin und keine andere Person drumherum ist. Und ich glaube, die 1:1 CONCERTS sind eine der ganz wenigen Situationen, in denen ich diese Melancholie mit einer anderen Person teile, und vielleicht auch mit meiner Musik erzeuge. Darüber hinaus mit einer Person, die ich gar nicht kenne! Ich finde das sehr besonders, dass da so ein Raum ist, in dem so etwas wie gemeinsame Melancholie stattfinden kann.

Christian: Und wie gelingt das dann? Du sagst in einem deiner Soundvideos: „Musik hilft, das Unbekannte zu umarmen“. Das würde da ja ganz gut passen.

Jonas: Ja, auf jeden Fall. Vielleicht hat Melancholie mit dem Unbekannten zu tun, also auf jeden Fall mit dem Sehnen und dem Wunsch. Musik hilft, sich in diesen Räumen aufzuhalten. Es macht es auch leichter, diese Stimmung auszuhalten und keinen Flucht- oder Ablenkungsreflex zu haben.

Christian: …sondern da ganz reinzugehen und sich damit zu verbinden?

Jonas: Genau, und vielleicht so ein Gefühl wie die Melancholie als „richtig" zu empfinden in diesem Moment. Musik vermag es sehr stark, dieses Setting zu bauen: so ist gerade die Stimmung und das ist vollkommen okay. Dunkel oder traurig etwa, oder melancholisch oder eine dieser Emotionen, die vielleicht nicht gerade als positiv oder wünschenswert konnotiert sind.

Christian: Bei der Performance neulich haben wir Dir die Zuhörer:innen ja zugeführt, d.h. wir haben sie verführt und nachher wieder abgeholt und begleitet. Viele sind bestimmt auch melancholisch rausgegangen - nach 1:1 CONCERTS laufen ja oftmals Tränen, an jenem Abend genauso. Man lässt sich ja wirklich ganz auf einen fremden Menschen ein, indem man so tief in die Augen blickt. Das ist ungewöhnlich und vielleicht tut sich, gerade weil das so selten passiert, irgendwo in einem etwas auf. Und so kann man in diesem Blick-Impuls auf einmal eine Melancholie, die man sonst eher alleine empfindet, teilen und zulassen.

Melancholie: oft ein Thema in den vielen emotionalen Feedbacks der Hörer:innen nach einem 1:1 CONCERT.

Melancholie: oft ein Thema in den vielen emotionalen Feedbacks der Hörer:innen nach einem 1:1 CONCERT.

Jonas: Ja, ich kenne das Format nicht ohne diesen Blickkontakt zu Beginn. Ich habe mich auch schon einmal gefragt, was dieser Blickkontakt ausmacht. Es ist ja einfach nur der Blickkontakt in sich, ohne eine bestimmte Zuschreibung, Bedeutung oder Funktion. Dieses Element des Formats macht jedenfalls ganz, ganz viel, aber ich könnte es nicht genau benennen.

Christian: Über die Jahrhunderte und Epochen hinweg - vom Mittelalter bis zur Neuzeit und Gegenwart - ist Melancholie mal verteufelt worden und mal als das Göttlichste überhaupt gepriesen worden. Die Melancholie ist nur schwer zu fassen. Je mehr man nach einer Definition sucht, desto weiter entfernt man sich von ihr. Die Schriftstellerin Mariela Sartorius, die ein Buch über Melancholie geschrieben hat („Die hohe Kunst der Melancholie“), sagt an einer Stelle, dass all diese versuchten Definitionen einen gemeinsamen Nenner haben: die Offenheit für das Unbekannte. Genau das empfinde ich als einen Kernpunkt der 1:1 CONCERTS: dieses Aufmachen, bzw. Nicht-zu-machen. Augen auf und Herz auf - gegenüber dem Unbekannten.

Jonas: Für mich hat Melancholie auch etwas mit Sich-verloren-fühlen zu tun, auf ganz vielen verschiedenen Ebenen. Das kann irgendwie ein soziales Sich-verloren-fühlen sein, so etwas wie Einsamkeit, oder auch ein Sich-verloren-fühlen in der Welt, wenn man nicht weiß, wo es jetzt gerade hingeht oder wo man steht, etwa wenn es um Entscheidungen oder Zwischenphasen im Leben geht. Aber es gibt auch Momente, in denen dieses Verloren-sein so akzeptabel ist oder wo das einfach so da sein darf, das Unbekannte oder das Verlorensein. 

Jonas zwischen Tuba, Elektronik und Melancholie

Jonas zwischen Tuba, Elektronik und Melancholie

© Matteo Pablo Varisco

Christian: Das ist eigentlich etwas ganz Schönes und Positives, was du schilderst. Aber oft wird sie eher in eine traurige, etwas schwierige Richtung hingedeutet. Der Duden beschreibt als eine Ausprägung der Melancholie die Depression:

Melancholie: von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität gekennzeichneter Gemütszustand

Ich empfinde das eben überhaupt nicht, ich finde die beiden auch komplett unterschiedlich. Bei der Depression entsteht ja eben gerade nicht die Resonanz zur Welt, vielmehr wird sie gebrochen. Melancholie hingegen macht ja eigentlich immer weit, sie macht auf und geht gewissermaßen auf das Ungewisse drauf zu.

Jonas: Das räsoniert auf jeden Fall mit mir und ich habe gerade auch noch mal überlegt, warum denn die „offizielle Definition“ - also wenn wir den Duden mal als offiziell gültige Definition akzeptieren - abweicht von dem, was zumindest wir beide empfinden, nämlich dass Melancholie nicht der Weg zur Depression ist, also nicht per se. Und vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass wir uns einfach so viel mit Kunst beschäftigen und Kunst machen, Kunst wahrnehmen und darüber nachdenken, oder auch Kunst teilen - in Form von Musik oder anderen Formen. Vielleicht findet darüber so eine Art Umdeutung statt und die Melancholie öffnet einfach einen anderen Raum. Ich hatte vor ca. zehn Jahren einen Moment einer gewissen Zwischenphase. Da fühlte ich mich irgendwie verloren und habe eines Tages im Stuttgarter Industriegebiet so über den Neckar geschaut - was ja auch schon irgendwie so ein Bruch in sich ist (lacht). Und dann nahm ich die Lichter wahr, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Da empfand ich diese Melancholie und stellte für mich fest, dass es so eine Mischung ist: aus Traurigkeit und gleichzeitig fast so einer Freude darüber. Ich finde unsere Definition heute abend jedenfalls sehr interessant, also „eine Traurigkeit, die aber positiv konnotiert ist“.

Christian: Fast eine Erkenntnis, oder auch einen Genuss dieser Moment. Eigentlich ein Zen-Moment, jedenfalls anders als die Depression, in der Du nicht mit der Welt verbunden bist. Hartmut Rosa zum Beispiel spricht über Resonanzachsen und erwähnt gern diesen „vibrierenden Draht zur Welt“, der eben in solchen Resonanzmomenten gelingt. Schön, wie sich in unserem Gespräch rausstellt, wie wichtig oder auch heilsam Melancholie sein kann.

© Matthias Ziegler

Jonas: Also, ich glaube das heilsame Element darin ist die Kohärenz mit diesen dunklen Gefühlen in sich. Dass man sagt: ja, das genau macht dieser Moment mit mir, in der Situation, in der ich gerade bin, was ich empfinde, was ich sehe, wie ich dazu stehe, was ich weiß, was ich nicht weiß. Und das Unbekannte annehmen zu können. Ja, so würde ich es vielleicht versuchen, auf den Punkt zu bringen: die Melancholie ist so eine Kohärenz mit dem Dunklen in mir.

Christian: Wusstest Du, dass es eine wissenschaftliche Studie der FU Berlin von 2014 gibt, deren Ergebnis bemerkenswert ist: wenn man traurig oder melancholisch ist und dementsprechende Musik hört, so wird man nicht etwa melancholischer und trauriger, sondern im Gegenteil reguliert man seine emotionale Verfassung, wie eine Art Therapie. Das heißt doch im Endeffekt: wenn man da rein geht, wo der Schmerz ist, kann man ihn heilen…

Jonas: … indem man sich auf eine Art sogar darin bestätigt…

Christian: … und ihn dann auflöst, indem man ein Brennglas darauf legt. Wie war das bei unserer gemeinsamen Performance im November, am Labyrinth? Dort hast Du für die verschiedenen Zuhörer:innen Dein Stück „Reise“ gespielt. War denn da auch Melancholie ein Farbstich auf der Palette dieser „Reise“?

Jonas spielt sein Stück „Reise“ im Labyrinth Melancholia.

Jonas spielt sein Stück „Reise“ im Labyrinth Melancholia.

© Brett Ortgiesen

Jonas: Ja, auf jeden Fall. Der Titel des Stückes „Reise“ kam übrigens erst über die 1:1 CONCERTS zustande. Davor hatte es einfach nur einen Arbeitstitel. Aber das ist so ein Stück, das sich immer wieder entwickelt und verändert. Ich kann gar nicht genau sagen, ob es in der Melancholie endet oder ob das vielleicht auch eine Idylle sein könnte. Vielleicht ist es sogar in jeder 1:1 Begegnung anders, worin es endet. Es endet in so einer Ruhe und Harmonie, und ich glaube, die kann so ganz verschiedene Einfärbungen haben.

Christian: Du hast ja neben Tuba auch mit Loops und Elektronik gearbeitet. Hat diese Endstimmung auch damit zu tun, dass die Tuba so ein tiefes Instrument ist, dass man vielleicht eher der Melancholie zuschreiben würde als vielleicht der Piccolo-Flöte? 

Jonas: Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Der Klang der Tuba ist ja, wenn man sich einmal dran gewöhnt hat, sehr mächtig, das ist immer so eine Herausforderung. Ich habe schon das Gefühl, einfach mit einem riesengroßen, fetten Pinsel zu malen - dabei gibt es aber natürlich trotzdem das Bedürfnis, so etwas wie Melancholie oder feine Gefühle ausdrücken zu können. Und ja, vielleicht ist der Klang der Tuba irgendwie eher warm und rund und vielleicht erdig. Da liegt es nahe, dass man sich da eher auch so reinlegen kann. Das ist es ja auch, was sich mit Melancholie so ein bisschen verbindet, dass man sich da reinlegen und vielleicht sogar ein bisschen auch drin suhlen kann - womit wir wieder bei bei der Musik sind, die man sich dazu anhören kann.

Christian: Lieber Jonas, wie geht es denn eigentlich bei Deinen Musikprojekten weiter? Wir werden vielleicht nächstes Jahr auch wieder 1:1 CONCERTS mit Dir erleben können, das hoffe ich zumindest. Wo auch immer, wir werden es auf jeden Fall bekannt geben. Wie neigt sich Dein musikalisches Jahr dem Ende zu? Gibt es die Chance, Dich noch mal auf einer Bühne zu hören? 

Jonas: Im Moment sind keine Auftritte mehr geplant, aber was mich gerade sehr beschäftigt, ist ein Ankommen auf dem Land. Ich bin im Frühjahr aus Berlin rausgezogen und baue mir da gerade einen Raum auf, da gibt es einen Hof und einen alten Hühnerstall und der wird jetzt gerade zum Studio umgebaut. Dieser Hof bietet die Möglichkeit, ganz vieles, was in einer eher unruhigen und vielschichtigeren Zeiten entstanden ist, zu sortieren und in eine Form zu bringen. Da bin ich gerade beim Durchschauen, was daraus werden kann. Texte werden sortiert undsoweiter. Eher möchte ich wieder ein bisschen über den Prozess berichten, also sowohl den Bauprozess aber auch die künstlerischen Prozesse, über meinen Newsletter oder auch persönlicher wie auf Instagram.

Sortieren und In-Form-Bringen: Studio im Brandenburger Hühnerstall.

Sortieren und In-Form-Bringen: Studio im Brandenburger Hühnerstall.

© Jonas Urbat

Christian: Unbedingt! Dort findet Ihr noch mehr Infos, viele tolle Videos, Audios sowie sehr, sehr schöne Texte und Eindrücke über Deine vielschichtige Arbeit. Hoffentlich sehen wir uns auch bei 1:1 ganz bald wieder.

Jonas: Ich freue mich drauf. 1:1 CONCERTS ist ein sehr, sehr, sehr tolles Format, das ich echt ins Herz geschlossen habe. 

Christian: Ja, und du bist nun Teil der 1:1 FAMILY! Ich bedanke mich bei Dir für dieses äußerst anregende Gespräch über dieses schwer zu fassende Thema der Melancholie. Wir haben, wie mir scheint, eine neue Definition dazu geschaffen und ich freue mich auf ganz viele weitere Projekte mit dir. Allen Zuhörer:innen noch einen wunderschönen fein räsonierenden Abend.

Jonas: Vielen Dank dir, wunderbar! 

Wintermelancholie aus Jonas neuer Wahlheimat.

Wintermelancholie aus Jonas neuer Wahlheimat.

© Jonas Urbat
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