Mit Klassik spielt man nicht? 24. Oktober 2023

#1to1dialogues

© Dovile Sermokas

Willkommen zu unserer neuen Interviewreihe 1:1 DIALOGUES. Im kommenden Halbjahr treffen unsere künstlerischen Leiter:innen Franziska und Christian einmal im Monat ausgewählte Gäste aus dem erweiterten Kreis der 1:1 COMMUNITY und sprechen zunächst online - auf Instagram live - über Themen, die uns am Herzen liegen oder sich aktuell in unseren Projekten finden. Das Format ist so einfach und intensiv, wie ihr es von den 1:1 CONCERTS kennt:  2 Gesprächspartner:innen eröffnen für 15 Minuten einen möglichst persönlichen Resonanzraum.

Den Auftakt im Oktober macht Franziska mit der Geigerin und Bratschistin Maria Reich, die in Berlin und Rom schon viele 1:1 CONCERTS gespielt hat. Hier könnt ihr die transkribierte, leicht erweiterte Interviewfassung lesen oder den Videomitschnitt von unserem ersten Gespräch zwischen Franziska Ritter & Maria Reich am 19. Oktober 2023 anschauen:

Franziska und Maria kennen sich als Musiker:innen aus dem Orchester der Studienstiftung des Deutschen Volkes und verbrachten viel Zeit mit „Dido und Aeneas“ auf der wunderschönen Insel Mauritius (dort steht übrigens das älteste Opernhaus der Südhalbkugel). Maria ist neben ihrer regen Tätigkeit als (Jazz)Musiker:in auch als Kulturwissenschaftlerin, Komponistin und Autorin unterwegs. Anlass für unser Gespräch ist Marias gerade  erschienenes Buch „Mit Klassik spielt man nicht? Zur Improvisation im klassischen Konzert“. 

1:1 CONCERTS gäbe es nicht, wenn die 1:1 COMMUNITY  nicht ein großes Improvisationstalent an den Tag gelegt hätte, vor allem in der Pandemie, als das Projekt groß geworden ist. Wir haben in Windeseile - quasi aus dem Stegreif - ein System aufgebaut und jeden Tag aufs Neue improvisiert, mit viel Lust und Freude am Spielen, ohne vorher zu wissen, wo und mit wem die Reise genau hin geht. Für uns im 1:1 TEAM  ist und bleibt das Improvisieren bis heute eine Kernkompetenz im Arbeitsalltag. Und natürlich spielt Improvisation im musikalischen Sinn bei den 1:1 CONCERTS selbst eine große Rolle. Viele klassisch ausgebildete Musiker:innen trauen sich, in diesem Setting freier mit den Werken umzugehen und zu improvisieren, was sonst in ihrer Praxis vielleicht gar nicht so oft vorkommt.

Franziska: Für mich als sehr “klassisch ausgebildete, auf Blattspiel trainierte Flötistin ist und bleibt das Improvisieren ein Sehnsuchtsort mit großer Faszination. Bislang habe ich mich noch nicht dahin gewagt. Maria, hast du heute schon improvisiert? Und wie bist du zum Improvisieren gekommen? Maria, hast du denn heute schon improvisiert? Und wie bist du zum Improvisieren gekommen? 

Maria: Eine sehr schöne Einstiegsfrage. Ja, ich hoffe und ich glaube auf jeden Fall, dass ich heute schon improvisiert habe - in einer der vielen Situationen, die dann doch anders waren, als ich im Vorhinein dachte. Im musikalischen Kontext durchzieht das schon lange mein Leben, weil ich in einem Musik-Umfeld groß geworden bin, in dem viel improvisiert wurde. Dass ich mir auf einer philosophischen Ebene darüber Gedanken mache, kam erst viel später. Das hat mich vielleicht eher implizit beschäftigt, aber ich habe es noch nicht mit dem Begriff der Improvisation verknüpft.

Buchcover. Im Sommer 2013 erschienen:

Im Sommer 2023 erschienen: "Mit Klassik spielt man nicht!" - Zur Improvisation im klassischen Konzert. Bestellbar über Amazon für 17 Euro.

© Maria Reich

2014 hast du dein Bachelor-Studium der Kulturwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen bei Prof. Martin Tröndle mit einer wissenschaftlichen Arbeit über das Improvisieren abgeschlossen: „Mit Klassik spielt man nicht! - Improvisation im klassischen Konzert“. Wie hat die Beschäftigung mit diesem Thema deinen Lebensweg beeinflusst? 

Diese Arbeit war eigentlich der Auslöser dafür, nochmal Musik zu studieren, aber an einem Institut, an dem Improvisation eine Rolle spielt. Daher habe ich mich für das Jazz-Institut Berlin entschieden, denn damals war das anderswo - zumindest in Deutschland - nicht üblich an klassischen Fakultäten.

Ab diesem Semester unterrichte ich Streicher-Improvisation im Lehrauftrag an der HfM Dresden und aus diesem Anlass habe ich gedacht: ich habe eigentlich so viel dazu geforscht und möchte, dass es endlich in Buchform erscheint. Diesen Sommer hatte ich ein bisschen Zeit und habe mich dann darum gekümmert, das Buch im Selbstverlag zu veröffentlichen. Das hat dann wiederum eine eigene Dynamik entwickelt. Zu sehen, dass extrem viele Leute sich dafür interessieren, ist sehr schön, denn ich finde das Thema ja selbst sehr wichtig und spannend.

Kann man improvisieren lernen? Und warum ist das auch für klassische Musiker:innen eine notwendige Kompetenz?

Da bin ich sehr optimistisch. Alle Menschen, die auf ihrem Instrument improvisieren, haben es gelernt und niemand konnte es, als er oder sie auf die Welt kam. Natürlich kann Jede und Jeder das lernen! Ich weiß nicht, ob es eine notwendige Kompetenz ist oder wer das entscheidet. Es ist in jedem Fall eine bereichernde Kompetenz und ich wünsche allen jungen Musiker:innen, die heute und in Zukunft an einer Hochschule studieren, dass sie diese Freiräume dort vorfinden.

Maria Reich Quartett spielt "Music for String Quartet" Kompositionen von Maria.

© Susann Jehnichen

Lass uns doch kurz ins Buch einsteigen. „Mit Klassik spielt man nicht!“ Das war ja nicht immer so. Woher kommt dieser „Glaubenssatz“? Kannst du uns mitnehmen, auf eine kurze Reise in die Vergangenheit der Musikgeschichte?

Auf jeden Fall! Dieser Satz kommt so provokativ daher, das klingt ja erst mal nach einem Verbot oder was man irgendwie zu kleinen Kindern sagt, oder? Und ich glaube, mir kam dieser Titel damals so, weil ich genau diesen Eindruck hatte, dass von den Autoritäten in diesem Kontext eben auch manchmal so etwas vermittelt wird: Ihr habt Hochachtung zu haben vor der Partitur, es geht um ganz strenge Werk-Treue! Also man darf nicht so viel verändern, man darf, ja man muss dem Werk mit so einer religiösen Hochachtung begegnen. Und in meinem Fall hatte ich das Gefühl, dass mir das im Kontakt mit dieser Musik nicht hilft, sondern mich sogar eigentlich von der Musik und dem Musizieren entfernt.

Deswegen hat es mich interessiert, wie es in den vergangenen Jahrhunderten war und als ich da so ein bisschen mehr recherchiert habe, wurde schnell sichtbar: Ah, zu Bachs Zeiten war es völlig normal zu improvisieren. Zu Mozarts Zeiten haben sie Improvisier-Wettstreite gemacht oder komplexe Werke improvisiert und erst später aufgeschrieben. Beethoven hat auch improvisiert. Franz Liszt sagt, es sei ihm schwer gefallen, nicht zu improvisieren, und so weiter. Je mehr ich da hineingeschaut habe, dachte ich: Es kann doch nicht wahr sein, dass ich mit dieser sogenannten klassischen Musik groß geworden bin und das nicht wusste. Es war wirklich interessant, festzustellen, dass das Nicht-Improvisieren nicht der klassischen Musik immanent ist, und auch nicht dem Entstehungskontext dieser Werke gerecht wird. Das stelle ich in diesem Buch dar und zeige verschiedene Faktoren auf, die dazu geführt haben, dass die Improvisation und auch die Wertschätzung für Improvisation immer weiter aus dem bürgerlichen Konzert-Kontext verschwunden ist.

Du hast gerade Franz Liszt erwähnt und ich will ihn kurz aus deiner Veröffentlichung zitieren (S.32): „Improvisation führt zu einem besseren Kontakt zwischen Musikern und Zuhörern“. Kontakt ist natürlich ein Aspekt, der uns bei 1:1 CONCERTS sehr wichtig ist. Jedes Konzert beginnt in einem stillen Moment und einem tiefen Augenblick, wo Musiker:in und Zuhörer:in sich in die Augen schauen. Bestenfalls entsteht hier in dieser „wortlosen" Begegnung ein Resonanzraum, aus dem Du als Musikerin dann deine Inspiration schöpfen kannst und spontan reagieren kannst. Wie fließt dieser persönliche Kontakt in deine Improvisationen ein? 

Ja, ich glaube, dass dieser stille Anfangs-Moment sehr deutlich macht, was die große Stärke von Improvisationsbereitschaft ist. Und bestimmt auch für alle Musiker:innen inspirierend ist, die quasi „nur Interpretationen spielen, aber sich vor Spielbeginn dieser sehr direkten Begegnung im Augenkontakt mit dem oder der Zuhörenden aussetzen. Die Idee ist ja schon, wie du sagst, dass diese Begegnung ein Resonanzfeld eröffnet und beide Menschen verwandelt auf eine bestimmte Art und Weise. Und ganz klar macht das dann auch was mit der Musik. Die Idee ist ja eben, dass es einen inspiriert für das eigene Spiel. Und ich bin überzeugt, dass das eine bestimmte Haltung zum Werk hervorruft oder eine andere Perspektive darauf, wie man auch mit geschriebenen Werken umgehen kann. Ich persönlich mag es auch sehr gerne, frei zu improvisieren in diesen Settings, weil es mir ganz Vieles erlaubt. Ich habe auch das Gefühl, dass ich so sehr direkt zu den Menschen durch Musik sprechen darf. Sicherlich gibt es aber auch für andere Musiker:innen bei 1:1 CONCERTS, die notierte Werke spielen, Spielräume, die in dieser besonderen Spielsituation entstehen und die improvisatorisch genutzt werden können.

© Sevasti Giannitsi

Und was macht für dich eine gute Improvisation aus? Hast du für dich da schon eine Antwort gefunden? 

Ja, das ist auf jeden Fall ein weites Feld. Ich glaube, für mich hat es viel damit zu tun, in Kontakt mit sich selbst zu sein und auch mit dem Umfeld durchlässig zu sein, für das „in Kontakt treten” mit Klang. Das heißt für mich auch, dass man nicht so viel forciert - was für viele Musiker:innen regelmäßig ein Problem ist, wenn man auf einer „ego-drivenEbene unterwegs ist. Es hilft der Improvisation nicht, weil es dann oft sehr kopflastig ist und weil Einfälle oder musikalische Verbindungen auch oft aus einer eher intuitiven Haltung entstehen. Wenn ich aber sehr viel will, also sehr viel zeigen und beweisen will, dann kann das auch behindern, dass man sich wirklich dem öffnet, was gerade musikalisch passiert - also die Klänge hört, so wie sie gerade sind.

Das ist ein unglaublich spannendes Thema, finde ich. Ich habe schon so viel darüber nachgedacht, was das für mich bedeutet, dieser Zustand, und es ist ein bisschen wie im Leben, dass man manchmal diese Balance findet und sie dann wieder verliert und dass es eigentlich immer wieder aufs Neue ein Suchen und manchmal ein Finden ist. Und dann hat man wieder neue Hinweise und denkt, jetzt hat man es kapiert und dann vergisst man es wieder oder verliert es. Das ist auch die Schönheit daran, dass es eben auch nicht bis ins Letzte kontrollierbar ist.

Das neue Album “Poème“ von Marias Trio Reich | Pringle | Baumgärtner mit frei improvisierter Musik für Violine/Viola, Klavier & Drums/Percussion erscheint am 15. Dezember 2023 bei stssts records!

© Dovile Sermokas

Kontrollierbar ist leider hier bei unserem Format die Zeit, die 15 Minuten sind gleich um, und obwohl ich noch Stunden mit Dir in die unwägbaren Welten der Improvisation abtauchen könnte, kommt jetzt die letzte Frage: Was nimmst du mit aus diesen Improvisationen bei den 1:1 CONCERTS in deine eigene musikalische Praxis? Was bleibt?

Interessante Frage. Musikalisch ist es vielleicht so eine Mischung. Idealerweise erinnere ich auch danach nicht so viel, weil ich wirklich im Moment improvisiere und dabei nicht so viel reflektiere. Dann kommt es eher so in inneren Rückblicken vorbei, irgendwie verzögert, dass ich denke, ah ja, da habe ich so etwas gemacht, das war eigentlich ganz cool oder das hat mir gefallen. Aber diese Bewertungsinstanz ist während des Spiels idealerweise eigentlich eher ausgestellt.

Was bei den 1:1 CONCERTS ja besonders ist, ist, dass man im Nachhinein quasi wie eine Spiegelung in Worten bekommt, also dass mir mein Gegenüber einen Brief schreibt, wie er oder sie die Situation und die Musik erlebt hat. Das ist oft super spannend für mich, weil man das sonst nach Konzerten nicht so direkt bekommt und vor allem auch nicht schriftlich. Das begleitet mich oft lange danach noch.

Maria, vielen Dank für dieses Gespräch und eine gute Spielenergie und mehr Raum für Improvisieren wünsche ich uns allen!

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